Vom digitalen Striptease zur Hatz im Netz.

Die neue Macht des Internet

Von Thomas Kletschke

Auf den Medientagen diskutierte der PresseClub München mit seinen Gästen das Thema, das gerade wieder die Umbrüche in Mediennutzung, Rezeption von Nachrichten und Medienproduktion offenlegt: „Vom digitalen Striptease zur Hatz im Netz: Die neue Macht des Internet“. Über Cybermobbing und digitale Shitstorms gegen Unternehmen und Parteien diskutierten am 26. Oktober 2012 Stefan Körner, Landesvorsitzender der Piratenpartei in Bayern, Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der LMU München, Dirk von Gehlen, Redaktionsleiter jetzt.de (Süddeutsche Zeitung, München) und Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler ( Redaktionsleitung Staatslexikon, Passau). Moderiert wurde das Podium von Ruthart Tresselt, Vorsitzender des Internationalen PresseClubs München.

Medientage 2012
Foto: Robert Auerbacher

Jedes dritte Kind in Deutschland habe Mobbingerfahrungen im Web machen müssen, sagte Moderator Ruthart Tresselt. An den Soziologen Prof. Dr. Armin Nassehi gewandt, fragte er. „Sind das nicht erschreckende Zahlen?“ – „Die moderne Gesellschaft besteht aus unheimlich viel Interaktion“, meinte Nassehi. Daher gelte es in den verschiedenen Bereichen des Internets darauf zu achten, wie die Gatekeeper-Funktion ausgeübt werde. „Dann gibt es Begrenzungen von Möglichkeiten, das ist auch gut so.“ So gebe es auf vielen Websites dokumentierbare Formen von Mobbing, denen man nachgehen könne und solle. Auch für den Piraten Stefan Körner steht fest, dass Angriffe auf Personen und Persönlichkeitsrechte nicht folgenlos bleiben dürften. „Dort gelten die gleichen Gesetze wie in der Realität“, so Körner. Das Internet sei ein sozialer Kommunikationsraum. „Aber es ist schwieriger, im Web Menschen dingfest machen“, gestand der Politiker ein. Allerdings gelinge es auch in der Realität nicht immer, jemanden festzuhalten – etwa, wenn ein Mensch einen anderen anrempele und dann in der Masse verschwinde. Was es im Web schwieriger mache, dort Kriminalität jeder Art zu ahnden: In Bayern würden lediglich 25 Beamte sich den Straftaten um Internet kümmern, während alleine in München 6.000 Beamte Dienst täten. Mit dieser Äußerung erntete Stefan Körner Aufmerksamkeit im Publikum und auf dem Podium. Damit wolle er sich aber nun nicht als Law and Order-Politiker im Web einen Namen machen, stellte der Landesvorsitzende der Piraten klar. Ihm ginge es darum, dass die Kompetenzen der Polizeibeamten auch im Web und Web 2.0 gestärkt werden müssten, dass die Anzahl der Beamten, die sich auch dienstlich im Internet bewegen, der Relevanz des Netzes in der Gesellschaft annäherten.

Dass die Anonymität, die es in vielen Teilen des Webs gebe, ein Problem darstellen kann, meinte Politologe Prof. Dr. Heinrich Oberreuter. Am Beispiel des aktuellen Selbstmords einer Schülerin in Kanada, die nach Cybermobbingattacken ihren Suizid im Web ankündigte, berichtete er davon, dass in Deutschland ein Viertel der Jugendlichen angebe, Angriffe im Netz als Opfer erlebt zu haben. In früheren Generationen habe es körperliche Gewalt oder Mobbing direkt an der Schule oder in der Freizeit gegeben. „Das war dann aber ein unmittelbarer Kontakt“, so Oberreuter.

Wie sollten Medien mit solchen Fällen, wie dem geschilderten Selbstmord umgehen – und wie könnten sie Kinder und Jugendliche schützen, wollte Ruthart Tresselt von jetzt.de-Redaktionsleiter Dirk von Gehlen wissen. Für von Gehlen, dessen Redaktion über den Fall berichtet hatte, und gleich unter den Artikel Kontaktadressen für Betroffene von Cybermobbbing angegeben hatte, gibt es oft noch eine Schieflage bei der Wahrnehmung des Problems. Das Web gehöre längst zur alltäglichen Benutzungswelt. Web und Web 2.0 seien viel sicherer etwa als der Straßenverkehr. Und auch bei Gewalt an Schulen fordere die Gesellschaft nicht gleich die Abschaffung der Schulen. Hier müsse man noch lernen, den Blickwinkel zu ändern. „Das ist eine Debatte die davon lebt, aus welcher Tür man den Raum betritt. Wir betreten sie noch häufig aus der Tür, auf der ‚Gefahr‘ steht“, sagte der Onlinejournalist. Er wolle keine Probleme kleinreden, aber auf den selbstverständlichen Charakter der digitalen Verkehrsmittel hinweisen. Politologe Oberreuter sah sich da missverstanden. Natürlich sei das Web faszinierend und gebe viele positive Impulse. Allerdings ginge es in dieser Diskussion ja genau um die negativen Seiten der Medaille.

Dass es im Netz manchmal rau zugeht, und dass das Web gnadenlos auch Kleinigkeiten dokumentiert, daran erinnerte Stefan Körner. Der Pirat meinte, dass durch das Web sich auch Politikerkarrieren anders darstellen würden, als noch vor einigen Jahrzehnten. „Politiker müssen heute mehr darauf aufpassen, was sie früher gemacht haben“, war der Piraten-Politiker überzeugt. So habe man früher möglicherweise bei Politikern wie Franz Josef Strauß kleinere Dinge unter den Teppich gekehrt, die heute vielleicht direkt zur Empörung im digitalen Raum führen würden. „Das war der Vorteil der Zeit.“ Seine These: Shitstorms gebe es aber nicht bloß im Web. „Wir Piraten werden immer wieder gemaßregelt, dass wir Shitstorms anzetteln“, sagte er. Neulich habe es aber im Bayerischen Landtag eine Diskussion zum Thema Herdprämie gegeben, bei der ein Abgeordneter, einen Tumult ausgelöst habe. Die Anzahl und Heftigkeit der Äußerungen seiner Parlamentarierkollegen gegen ihn sei heftig gewesen. „Das ist die Herkunft eines Shitstorms“, meinte Körner. Im Bezug auf öffentliche Personen wie Politiker und Promis meinte der Pirat, dass es auch eine Form von Umgang damit durch Wiederholung gibt. „Das ist nicht so tragisch, wenn man erst mal den dritten oder vierten Shitstorm erlebt hat.“

Medientage 2012
Foto: Hans Schwepfinger

Vom Shitstorm zur „Akte Wendler“ – und zurück zur wohlmeinenden Berichterstattung

Die Diskussion auf den Medientagen München hatte zeitgleich einen echten Aufhänger im wahren digitalen und im wahren realen Leben: Seinen ersten persönlichen Shitstorm erlebte Michael Wendler in der Zeit vom 17. Oktober an. An dem Tag hatte sich auf Facebook eine von einem Nutzer gegründete Gruppe mit dem Namen „100.000 Menschen die Michael Wendler scheiße finden“ gegründet. Aufhänger war das RTL-Format „Christopher Posch – Ich kämpfe für Ihr Recht.“ Darin war es um den Rechtsstreit Wendlers mit zwei Schlagerfans gegangen, die mit ihm einen Vertrag geschlossen hatten, um unter Nutzung seines (Marken-) Namens ein Café auf Mallorca nutzen zu können. Nach ihrer Darstellung in der RTL-Sendung fühlten sie sich dabei von Wendler vertraglich übervorteilt und abgezockt. Anfangs war die Anti-Wendler-Seite am Abend der Ausstrahlung der Sendung laut dem Social Media-Portal SocialPunk.de von einem einzelnen Nutzer aufgesetzt worden, der schon nach fünf Tagen 280.000 Mitglieder verzeichnen konnte – aber selbst nach eigenen Angaben gegenüber dem Medium nicht mehr die Kontrolle über beleidigende oder rassistische Äußerungen der Gruppennutzer hatte. Zwischenzeitlich machte SocialPunk.de allein vier Trittbrettfahrer aus, die mit Gruppen gleichen Namens bei Facebook auf Mitglieder-Fang gingen.

Soziologe Armin Nassehi meinte, „Ja, Shitstorms gab es immer“, aber sie hätten früher in kleineren Gruppen stattgefunden. Und: „Ganz normale, traditionelle Medien machen den Shitstorm.“ Dass aus dem digitalen Geraune erst ein Sturm wird, sei schon immer noch den Gatekeepern zu verdanken, so seine These. Für seinen Kollegen Oberreuter dagegen gibt es aktuell eine „faktische Entgrenzung der Öffentlichkeit“. „Heute haben Medien öffentliche Räume entstehen lassen, die Gespräche eines jeden mit jedem ermöglichen. Das ist positiv, aber: Muss nicht ein solches Gespräch gewisse Regeln haben?“, fragte der Politologe.

Was genau ein Shitstorm ist, und wie er sich etwa von Cybermobbing abgrenzen lässt, darüber gab es auf dem Podium verschiedene Ansichten.

Für den Piraten-Politiker Stefan Körner sind die Übergänge zum Cybermobbing durchaus fließend. „Entscheidend sind Vehemenz und Anzahl der Mitwirkenden an einem Shitstorm“, so Körner. Armin Nassehi, sah bei Shitstorms vor allem deren politische Bedeutung als Hauptmerkmal. Etwa in den Fällen zu Guttenberg, bei der Diskussion über die Doktor-Arbeit von Bundesministerin Annette Schavan. Heinrich Oberreuters These: „Was wir früher Medienkampagne genannt haben, ist ein Shitstorm. Das kann heute mit dem Instrument des Netzes jeder – warum sollte es auch nicht jeder nutzen?“ Dirk von Gehlen lieferte die trennschärfste Differenzierung: „Cybermobbing richtet sich gegen Personen; ein Shitstorm gegen Marken, Firmen oder Behörden.“

Einig waren sich Podium und Publikum darüber, dass Journalisten einerseits sehr kritisch mit Phänomenen wie Shitstorms umgehen müssen. Und das ummso mehr, da sie gleichzeitig oft erst der Auslöser für eine Wahrnehmung des Shitstorms in einer größeren Öffentlichkeit sind. Nicht-beachten eines Shitstorms muss aber andererseits nicht heißen, dass man sich dadurch der Berichterstatter-Funktion entziehen kann.

Im Fall Michael Wendler, der mit einem Bericht in dem mit dem früheren Scripted Reality-Darsteller und Juristen Christopher Posch gedrehten Doku-Soap-Format begann, legten diverse Onlinemedien nach, flankiert von Artikeln der Printausgaben. So machte die „Bild“ am letzten Samstag, also einen Tag nach der Podiumsdiskussion des Internationalen PresseClubs München auf den Medientagen 2012, ihr Blatt mit Wendler auf, und präsentierte im Innern „Die Akte Wendler“, in der es etwa um einen anderen, aktuell schwelenden Rechtsstreit des Schlagersängers mit einer Reiterin geht, die ein Pferd von ihm gekauft hatte. Tags drauf schwenkten die Kollegen von der „BamS“ in Richtung wohlmeinende Berichterstattung ein, und interviewten den „„meistgehassten Mann Deutschlands“. Mit bittersüßen Fragen („Wie fühlt es sich an, wenn dich Tausende hassen?“) setzte die „Bild am Sonntag“ ihre Berichterstattung im Web fort, lässt Wendler aber immerhin Raum, Gewaltandrohungen gegen sich und seine Familie zum Thema zu machen. Anhand des aktuellen Falls kann man Entstehen, Verstärken, Abflachen und folgendes Köcheln-Lassens des Shitstorms – oder zumindest teilweisen Cybermobbings – relativ genau nachvollziehen. Einschließlich der Anteile, die ganz reale Redaktionen daran hatten.

Zurück